Bei ihrer dritten Pressekonferenz im Rahmen der FIFA Fussball-WM Katar 2022™ am 4. Dezember in Doha nahm die Technische Studiengruppe der FIFA (TSG) eine umfassende Analyse der Gruppenphase vor und präsentierte ihre Erkenntnisse aus den ersten 48 Spielen des Turniers.
Arsène Wenger, FIFA-Direktor für globale Fussballentwicklung, wurde von Jürgen Klinsmann, Ex-Nationalstürmer Deutschlands und Ex-Trainer Deutschlands und der USA, sowie von Chris Loxston, Leiter der FIFA-Gruppe Leistungsanalyse und Trends, begleitet.
Die Pressekonferenz in voller Länge und alle Analysedokumente der TSG finden Sie im folgenden Video.
Einleitend drückte der französische Ex-Trainer seine allgemeine Zufriedenheit mit dem generellen Niveau des Turniers aus, insbesondere unter den für die Mannschaften neuartigen Vorbereitungsbedingungen. "Ich wollte unbedingt sehen, wie eine Weltmeisterschaft ohne jegliche Vorbereitungszeit ablaufen würde, wie sich die Mannschaften auf den Zeitmangel einstellen würden. Denn wir wissen, dass eine Weltmeisterschaft gewonnen und entschieden wird, je nachdem, wie schnell die Mannschaften lernen", verriet er gleich zu Beginn. "In einem solchen Wettbewerb kann das den Unterschied ausmachen, und die Geschwindigkeit, mit der Trainer ihre ausgeglichenste, effektivste Elf finden, ist eine sehr interessante Beobachtung für uns."
"Ich hatte auch noch andere Fragen: Wie gut wird die Organisation sein? Wie ist die Erfahrung für die Fans? Ist es möglich, sich mehr als ein Spiel am Tag anzusehen?", führte Wenger weiter aus. "Und ich muss sagen, die Erfahrung ist einzigartig. Die Rückmeldungen, die wir von den Fans bekommen, sind außergewöhnlich, und die Einschaltquoten waren noch nie so hoch. All das deutet darauf hin, dass enormes Interesse an dieser Weltmeisterschaft besteht."
Mit ihrer immensen Erfahrung und den enormen Datenmengen, die bei den Begegnungen gesammelt wurden, haben die TSG-Mitglieder einige Tendenzen herausgearbeitet. Hier die vier wichtigsten Beobachtungen von Katar 2022:
In der Offensive ist Effizienz wichtig
Die Mannschaft mit den meisten Torschüssen war Deutschland (67), das nichtsdestoweniger bereits nach der Vorrunde ausgeschieden ist. Die Niederlande oder Polen hingegen gaben weniger Torschüsse ab, überstanden die Gruppenphase aber. Die Erklärung liegt in der Effizienz: Die Niederländer benötigen im Durchschnitt nur 1,6 Torschüsse, um ein Tor zu erzielen, Polen 2, Deutschland 4 und Belgien, das in dieser Kategorie Schlusslicht und ebenfalls bereits ausgeschieden ist, gar 11.
Arsène Wenger: "Die Mannschaften, die die wenigsten Torschüsse benötigten, um zu treffen, kamen weiter. Mannschaften mit einer hohen Anzahl von Torschüssen dominieren ihre Spiele. Mannschaften, die mit wenigen Schüssen ein Tor erzielen, spielen mit einer defensiven Grundausrichtung und Kontern und haben eine höhere Effektivität. Im Schnitt fällt aus zwei Torschüssen ein Tor. Wer sehr viel mehr benötigt, hat nur wenige Chancen auf den Gewinn der Weltmeisterschaft."
Jürgen Klinsmann: "Deutschland war nicht präzise genug, um die Torchancen, die es sich erarbeitet hat, zu nutzen. Eine der Diskussionen, die wir in Deutschland führen, ist entsprechend die über die des klassischen Mittelstürmers, des Torjägers mit der Rückennummer 9. Wenn man mit einer falschen Neun spielt, hat man immer die Ausrede, dass er kein echter Abschlussspieler ist, also wird von ihm nicht wirklich erwartet, dass er viele Tore schießt. In Deutschland leiden wir aktuell darunter, dass es diesen echten Neuner nicht mehr gibt, wie wir ihn beispielsweise mit Miroslav Klose noch hatten. Die beiden Erklärungen sind also ein Mangel an Präzision und das Fehlen eines echten Vollstreckers, der diese Chancen in Tore ummünzt."
Medienbriefing der Technischen Studiengruppe - FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Katar 2022
Tore in der Nachspielzeit:
Seit Beginn von Katar 2022 ist die FIFA-Schiedsrichterkommission bemüht, die effektive Spielzeit zu erhöhen. Das erklärt auch die erheblich längere Nachspielzeit, wie der Vorsitzende der FIFA-Schiedsrichterkommission Pierluigi Collina bereits erklärte. Das geht aber nicht mit einem Anstieg der Tore nach der nominellen 90. Minute einher. Im Gegenteil. 2018 fielen ab der 91. Minute 21 Tore, 2022 sind es derer bislang nur 12.
Arsène Wenger: "Normalerweise würde man erwarten, dass bei mehr Nachspielzeit auch mehr Tore fallen als 2018. Aber das Gegenteil ist der Fall. Das hat meiner Meinung nach zwei Gründe. Der erste ist, dass, wenn die Partien schon entschieden sind, die Mannschaften weniger Grund haben, nach vorn zu spielen und etwas zu riskieren. Der zweite könnte in der Möglichkeit von fünf Auswechslungen begründet liegen. Denn das ermöglicht es zugleich, in den Schlussminuten besser zu verteidigen."
Mehr Tore nach Flanken
Bei ihrer zweiten Pressekonferenz nach dem zweiten Spieltag der Gruppenphase strichen die Experten der TSG noch die geringere Zahl der Vorstöße ins letzte gegnerische Drittel sowie das verstärkte Spiel über die Außenpositionen hervor. Nun zeigt sich: Diese Tendenz hat sich in der Gruppenphase verfestigt. In der Folge fielen erheblich mehr Tore nach Flanken. Im Vergleich zu Russland 2018 ist ein Anstieg von 83 Prozent zu verzeichnen!
Arsène Wenger: "Die Mannschaften machen die Mitte dicht. Vorstöße ins letzte Drittel erfolgen daher über die Außenbahnen. Das ist ganz charakteristisch für diesen Wettbewerb. Folglich müssten die Mannschaften mit den besten Außenbahnspielern auch die größten Chancen auf den Titelgewinn haben. Das wird interessant zu beobachten sein. Mit den besten Außenbahnspielern meine ich dabei nicht nur die Offensivkräfte. Ich meine auch die Außenverteidiger mit der Fähigkeit ihrer jeweiligen Seite effektive Tandems mit ihren Vorderleuten zu bilden, wie Frankreich auf dem linken Flügel mit Theo Hernandez und Kylian Mbappé, die viele Chancen kreiert haben."
Jürgen Klinsmann: "Die Kompaktheit der Mannschaften im Abwehrverbund ist so sehr auf die Mitte konzentriert, dass es für angreifende Mannschaften schwierig ist, durch die Mitte zu kommen oder sich auch nur an Fernschüssen aus 20 oder 25 Metern zu versuchen, was man bei früheren Weltmeisterschaften viel häufiger gesehen hat. Das ist bei diesem Turnier sehr schwierig, da Abwehrreihe und Mittelfeldreihe sehr eng beieinander stehen. Ergo versuchen es die Mannschaften über die Außenbahnen und Flanken. Dabei kommt es natürlich auch auf die Angreifer an, die das Spiel lesen und Läufe in den Rücken der Abwehr machen müssen. Bestes Beispiel ist das Kopfballtor von Cody Gakpo, der allein durch seinen Laufweg zwei Verteidiger aus dem Spiel genommen hat. Die Trainer versuchen häufig, über die Außen zum Erfolg zu kommen."
Direkte Duelle
Eines der Ergebnisse der TSG bei ihrer ersten Pressekonferenz: die geringere Zahl der Eins-gegen-eins-Situationen. Bei ihrem dritten Auftritt vor den Medien analysierten die FIFA-Experten diese Entwicklung im Detail und kamen zu dem Schluss, dass die entsprechende Risikobereitschaft auch von der Kultur der jeweiligen Auswahl abhängt. So versuchen unter den für das Achtelfinale qualifizierten Mannschaften die Südamerikaner beispielsweise 3,6 Mal pro Spiel ein Eins-gegen-eins, die Europäer hingegen lediglich 2,1 Mal.
Arsène Wenger: "Alle großen Spieler in der Geschichte der CONMEBOL hatten diese Fähigkeit. Heute sind es Spieler wie Neymar oder Messi, die das Talent haben, in Eins-gegen-Eins-Situationen zu gehen. Es mag also auch Mentalitätssache sein, dass man im südamerikanischen Fussball eher mal versucht, den Gegner im Eins-gegen-eins aussteigen zu lassen, anstatt abzuspielen."
Jürgen Klinsmann: "In Europa gibt es seit zehn Jahren die Tendenz, jungen Spielern das Spiel mit einer, maximal zwei Ballberührungen einzutrichtern. Der Ball soll schnell weitergeleitet werden, man soll im Spiel ohne Ball ständig in Bewegung sein, Ballbesitz haben. Dadurch lernen die Spieler unter Umständen gar nicht erst mehr, wie man sich im Dribbling durchsetzt. Aber wenn das Spiel enger und kompakter wird, braucht es dribbelstarke Spieler umso mehr. Das ist eine Sache der Ausbildung. Südamerika ist nicht in dieser Situation, weil Dribbeln dort ohnehin zur Spielweise gehört. Insofern überrascht es auch nicht, dass südamerikanische Mannschaften in dieser Statistik vorn liegen."