Tite spricht über sein Jahr Auszeit vom anstrengenden Trainerjob
Er schwärmt von Neymar, Kevin De Bruyne und Italien unter Roberto Mancini
Er erläutert, warum es sich gegen Argentinien um mehr als um ein WM-Qualifikationsspiel handelt
"Es ist kaum möglich, sich in einem Land mit 200 Millionen Seleção-Trainern lange zu halten", meinte Luiz Felipe Scolari einmal über den wohl anspruchsvollsten Job im Weltfussball.
Tatsächlich dürfte es kaum leichter sein, sich unter den mehr als kritischen Blicken der erfolgsverwöhnten brasilianischen Fans zu behaupten, als in der Wüste Gobi zu überleben. Denn für die Brasilianer reicht Siegen allein nicht aus. Man muss vielmehr mit unermesslichem Selbstbewusstsein siegen.
Mario Zagallo war der achte Trainer der Seleção in den fünf Jahren vor Mexiko 1970. Carlos Alberto Parreira war 1991 der vierte Coach in kaum mehr als einem Jahr. Zehn Jahre später war Scolari der vierte innerhalb von nur neun Monaten. Nur ein einziger Mann hielt sich bislang mehr als fünf Jahre auf der Trainerbank Brasiliens, nämlich Flavio Costa, der das Team von 1944 bis 1950 führte.
Ein Mann, der sich nicht nur hält, sondern in dieser Position sogar erst richtig aufgeblüht ist, steht kurz davor, diesen Rekord zu brechen. Tite hat von 52 Spielen als Trainer 38 gewonnen und nur vier verloren. In den letzten 21 WM-Qualifikationsspielen kassierte Brasilien keine einzige Niederlage und feierte 16 Siege.
Der 59-Jährige zeichnet für den besten Start verantwortlich, der Brasilien je in einer WM-Qualifikation gelang. Dagegen verblassen selbst die Leistungen von Junior, Socrates, Zico und Co von 1981. Ihm gelingt das Kunststück, die unendlich anspruchsvollen Fans zufriedenzustellen.
Tite räumte sich etwas Zeit in seinem Terminkalender frei und sprach mit FIFA.com über die bevorstehenden Partien gegen Kolumbien und Argentinien, über Diego Maradona, Neymar, Philippe Coutinho und Alisson, seine Bewunderung für Roberto Mancini und Italien sowie für Kevin De Bruyne und erklärte, warum er sich ein Jahr Auszeit gönnte, um den Fussball aus einer anderen Perspektive zu studieren.
FIFA.com: Tite, vier Spiele, zwölf Punkte, zwölf Tore und nur zwei Gegentore - wie beurteilen Sie Brasiliens Start in die WM-Qualifikation?
Tite: Hinter jedem Spiel und jeder Phase steht eine eigene Geschichte. Wir müssen das Gesamtbild im Blick behalten. Die Pandemie hat uns geschwächt und das fussballerische Niveau beeinträchtigt. Grob gesagt war das Niveau in drei Spielen höher als meine Erwartungen. Gegen Venezuela haben wir uns allerdings sehr schwer getan. Das alles ist ein Wachstums- und Lernprozess. Die Punkte reflektieren die Leistungen des Teams und die Summe beeindruckt mich.
Als nächstes treffen Sie auf Kolumbien und Argentinien. Beide Teams sind seit ihren Niederlagen gegen Brasilien bei der Copa América ungeschlagen und haben Stars wie Dybala, Correa, Messi, Martinez und Agüero im Kader.
Das sind zwei sehr wichtige Spiele. Die WM-Qualifikation ist ungemein ausgewogen. Die beiden Spiele gegen Kolumbien in der letzten Qualifikation waren technisch unsere besten zwei Spiele. Beide Teams spielten offensiv, arbeiteten Chancen heraus, stellten den Gegner vor große Probleme. Es waren sehr ausgeglichene Partien. Diese beiden Spiele waren sehr schwer für uns. Bei den traditionellen Derbys – Brasilien gegen Argentinien und Brasilien gegen Uruguay – kommt ein sehr starkes historisches Element hinzu. Und Argentinien hat großartige Spieler. Für mich ist Brasilien gegen Argentinien nicht nur ein WM-Qualifikationsspiel sondern stets auch ein eigener Wettstreit.
Wo wir gerade von Argentinien sprechen - kürzlich verstarb Diego Maradona. Was können Sie uns über ihn sagen?
Lassen Sie es mich mit den Worten von Careca sagen, zu dem ich ein sehr gutes Verhältnis habe. Maradonas technisches Können, sein Improvisationstalent, seine Kreativität - einfach unbeschreiblich. Careca musste stets absolut auf der Hut sein, um mit diesem absoluten Ausnahmespieler Schritt halten zu können. Auf dem Spielfeld war Maradona einfach absolut außergewöhnlich.
Wo wir gerade von großen Spielern sprechen: Was sagen Sie zu Neymar?
Neymar ist enorm gereift. Früher, als er noch bei Barcelona war, und in meiner Anfangszeit bei der Seleção war er meist auf dem Flügel zu finden, erzielte Tore, war schnell und dribbelstark und zeigte starke Einzelleistungen. Mittlerweile hat er sein Operationsgebiet deutlich ausgeweitet. Er ist weiterhin ein brandgefährlicher Torjäger aber er bereitet auch viel mehr Chancen für andere vor. Er ist, was wir "Pfeil und Bogen" nennen - er kann Chancen vorbereiten und er kann Angriffe erfolgreich abschließen. Er hat sein Arsenal also deutlich erweitert.
Wie wichtig ist Philippe Coutinho für die Seleção?
Seitdem ich das Traineramt übernommen habe, hat die Seleção verschiedene Phasen durchlaufen. Die denkwürdigste Phase gab es in der Qualifikation für die WM 2018. Das war die beste Version der Seleção. Wir haben sehr viele Chancen herausgespielt, viele Tore geschossen, nur wenige Gegentore kassiert und waren zudem sehr beständig. Und das alles haben wir mit sehr schönem Fussball erreicht. Coutinho war in diesen Qualifikationsspielen eine ungebundene Verstärkung. Am Anfang war er außen auf rechts, hatte alle Freiheiten, sich zu entfalten. Als dann Renato Augusto verletzt war, spielte er im Zentrum, ähnlich seiner Rolle bei Liverpool. Auch dort war er sehr stark. Er hat einige Höhen und Tiefen durchgemacht, aber er ist ein großartiger Spieler und derzeit in Topform.
Halten Sie Alisson für den besten Torhüter der Welt?
Ich denke, es sind zwei verschiedene Dinge, der Beste insgesamt und der Beste in einem bestimmten Moment zu sein. Ob er zu den besten drei der Welt gehört? Da habe ich absolut keinen Zweifel, bin zu 100 Prozent davon überzeugt. Um sagen zu können, dass er der Beste ist, müsste ich mir die Konkurrenten sehr genau anschauen. Aber ich denke schon, dass er im vergangenen Jahr der Beste war. War er besser als Neuer? Ja. Besser als Ter Stegen? Ja. Besser als Oblak? Ja.
Welche Teams halten Sie neben Brasilien derzeit für die besten der Welt?
Das ist schwer zu beantworten. Wegen der Pandemie haben die Teams derzeit ja kaum Gelegenheit, Ihr Können zu zeigen. Brasilien, Argentinien und Kolumbien hatten kaum Spiele. Die Europäer hatten schon acht Termine, vier mehr als wir. Italien ist mit schönem Fussball zurückgekehrt, den ich mir sehr gern ansehe. Mancini hat großartige Arbeit geleistet. Er hat eine Fussballschule im Stile von Arrigo Sacchi eingeführt. Die Italiener haben jetzt eine viel bessere Ausgewogenheit zwischen ihrer Defensive, die ja historisch ihre größte Stärke ist, und der Offensive. Belgien hat immer noch diese großartige Generation. Sie bilden ein großartiges Team, mit fantastischen Einzelspielern. Einer der talentiertesten Spieler der Welt ist Kevin De Bruyne. Auch Frankreich ist sehr stark.
Welche drei Spieler halten Sie aktuell für die drei besten der Welt?
Die drei, für die ich auch bei der Wahl zum The Best - FIFA-Weltfussballer gestimmt habe. Neymar, dann Lewandowski, dann De Bruyne. Vor seiner Verletzung war Neymar selbst an seinem eigenen Standard gemessen in fantastischer Form. Lewandowski ist ein unglaublicher Stürmer. Und De Bruyne kann Dinge, die andere nicht können. Seine Improvisation, seine Entschlossenheit - ich liebe es, ihm zuzuschauen.
Können Sie uns etwas zu Ihrem Entschluss sagen, Ende 2013 ein Jahr Auszeit vom Trainergeschäft zu nehmen, durch die Welt zu reisen und den Fussball zu studieren?
Ich studiere schon immer den Fussball und will meine Kenntnisse und meine Vorstellungen erweitern. Nach meiner Zeit bei den Corinthians ergab sich die perfekte Gelegenheit, andere Trainer und Teams intensiver und vor Ort zu beobachten. Ich hatte auf Klubebene so ziemlich alles gewonnen, das Campeonato Brasileiro, die Copa Libertadores, die FIFA Klub-Weltmeisterschaft, wo wir gegen Chelsea siegten. Der nächste Schritt sollte die Seleção sein und ich wollte mich als Trainer so weit wie möglich verbessern. Ich habe Bücher gelesen, über Simeone, über Guardiola. Ich habe mich damit beschäftigt, was Bianchi bei den Boca Juniors erreicht hat und was Cruyff bei Barcelona bewegt hat. Der Fussball ist überall auf der Welt anders. An jedem Ort gibt es andere Dinge, die man lernen kann. Ich bin zu Bianchi gereist und habe mich mit seinen Vorstellungen vertraut gemacht. Das war sehr interessant. Ich habe etwas Zeit bei Arsenal verbracht. Ich war bei Ancelotti bei Real Madrid. Ich habe Manchester City analysiert, den englischen Meister und Bayern München, den deutschen Meister. Ich wollte so viel wie möglich lernen, was hinter den Kulissen geschieht, Training, Taktik und die Umsetzung auf dem Spielfeld. Einfach alles. Ich habe mir alle Spiele der WM 2014 angesehen, mir Notizen gemacht, sie haarklein analysiert. Diese Zeit war sehr wichtig für meine Karriere.
Von welchem Trainer haben Sie am meisten gelernt?
Ancelotti. Die Art, wie Simeone seine Teams organisiert, ist bemerkenswert. Guardiola mit seiner Offensivtaktik und der Fähigkeit, jeden Gegner zu knacken, ist beeindruckend. Bianchi hat die unglaubliche Fähigkeit, bei wichtigen Spielen das Beste aus seinen Spielern herauszuholen. Einige von Cruyffs taktischen Ideen waren absolut fantastisch. Aber am allermeisten habe ich ohne Zweifel von Ancelotti gelernt. Er sieht den Fussball auf seine ganz eigene und einzigartige Weise.
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