Sonntag 10 Juli 2016, 08:33

Rubens Salles: Kapitän ohne Auslandserfahrung

Als die englische Amateurmannschaft Corinthians FC im Jahre 1910 auf Exkursion nach Brasilien reiste, entdeckte sie nicht nur Neuland, sondern war auch davon überzeugt, eine vielversprechende Verstärkung für die heimische Liga gefunden zu haben: der talentierte Rubens de Moraes Salles, oder einfach nur Rubens Salles, der bei CA Paulistano im Mittelfeld agierte.

So schreibt die Zeitung O Estado de S. Paulo in Ihrem Nachruf: "Der Leiter der britischen Delegation zeigte sich dermaßen von Rubens beeindruckt, dass er ihm ein verlockendes Angebot über ein Engagement auf englischem Boden unterbreitete." Salles war sichtlich stolz, lehnte das Angebot aber umgehend ab. Zum Glück für die brasilianischen Fans, denn durch seinen Verbleib in São Paulo schaffte das damals 20-jährige Talent die Grundlagen, zu einer der größten Legenden in den Anfangsjahren dieser Sportart in Brasilien zu avancieren, das viele Jahrzehnte später als die spirituelle Heimat des Fussballs gefeiert werden sollte.

In punkto Pioniergeist hatte es Rubens Salles sogar übertrieben. Er war nicht nur einer der ersten Brasilianer, denen ein Angebot eines ausländischen Vereins vorlag. Darüber hinaus hatte er die Ehre, der erste Kapitän der brasilianischen Seleção zu sein. Somit wird er auch in diese Sonderserie von FIFA.com über die ersten Anführer großer Nationalmannschaften aufgenommen. Sein Debüt gab er 1914 in einem Freundschaftsspiel gegen den englischen Klub Exeter City. Neben seiner Aufgabe als Spielführer war er zusammen mit dem Verteidiger Sylvio Lagrecca auch Trainer der Mannschaft – und das alles im Alter von 23 Jahren. Als ob das alles nicht genug gewesen wäre, erzielte er damals auch den Siegtreffer im ersten Länderspiel der Seleção gegen keinen geringeren Gegner als Argentinien und bescherte seiner Mannschaft neben dem Gewinn der Copa Roca auch den ersten Titel.

Das Spiel fand am 27. September in Buenos Aires statt – zwei Monate nach dem Debüt gegen Exeter. Den Titelgewinn besiegelte er mit einem fulminanten Schuss von außerhalb des Strafraums. Der Ball beschrieb eine fast unmöglich scheinende Flugkurve und erwischte den Torhüter Juan José Rithner nach 13. Minuten auf dem falschen Fuß. Nicht umsonst nannten seine Mitspieler den Schützen "Patada Atômica" (Atomschuss). Viele Jahre später sollte mit Roberto Rivelino, dem Weltmeister von 1970, ein weiterer brasilianischer Star den gleichen Spitznamen erhalten.

Die Nationalmannschaftskarriere von Salles war indes sehr kurz. Er bestritt lediglich drei weitere Begegnungen für Brasilien und hängte seine Fussballschuhe schon 1917 an den Nagel. Dies schmälert aber keineswegs seinen Einfluss in Zeiten des Amateurfussballs, insbesondere, weil er dem Sport als Trainer verbunden blieb. 1931 führte er beispielsweise den Traditionsklub São Paulo FC zum ersten Titelgewinn im Bundesstaat. Diese letzte Heldentat gelang ihm lediglich drei Jahre vor seinem Tod im Alter von 53 Jahren.

Rubens Salles wurde in São Manuel geboren, das rund 270 Kilometer von São Paulo entfernt liegt. Schon früh entdeckte er seine Leidenschaft für den Fussball und nutzte bereits im Alter von elf Jahren jede freie Minute, um gegen seine Mitschüler im Internat anzutreten. Im Grunde hat er nie eine ordnungsgemäße Ausbildung zum Fussballer durchlaufen. Es lässt sich dennoch nur schwer sagen, durch welche Qualitäten er auf dem Platz am meisten überzeugte: sein Umgang mit dem Ball oder seine Führungsstärke.

Eine Frage, auf die auch die Gazette O Estado de S. Paulo keine abschließende Antwort findet: "Nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn gab es einige Spieler, die ähnlich robust waren und ebenfalls in Erinnerung geblieben sind. Aber keiner von ihnen übte diese neue Sportart so originell und elegant aus", urteilte die Zeitung. "Zudem lebte er wie kaum ein anderer die Solidarität. Oftmals bat Rubens Salles in den Stunden des Triumphs darum, nicht allein im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, sondern seine Mannschaft am Applaus und den Lobeshymnen teilhaben zu lassen."