Montag 18 April 2016, 15:19

Roger Martínez: Aus dem Dunkel ans Licht

"Sterne leuchten nur in der Dunkelheit."

Im Januar 2015 wollte der Kolumbianer Roger Martínez sich mit diesem Satz motivieren, den er über sein Twitter-Konto veröffentlichte. Fast drei Jahre zuvor war er nach Argentinien gekommen und kämpfte darum, wie ein Stern zu glänzen, doch in seiner Karriere herrschte Dunkelheit. Die sechs vorangegangenen sechs Monate hatte er auf Leihbasis für den argentinischen Zweitligaaufsteiger Santamarina de Tandil gespielt und dort keine Erfolge verbuchen können. Mittlerweile war er zu seinem Verein Racing Club de Avellaneda zurückgekehrt, doch er wusste bereits, dass man ihn wohl erneut ausleihen würde. Er befand sich auf einem absoluten Tiefpunkt und war entsprechend niedergeschlagen.

"Manchmal lese ich solche Sätze und sie motivieren mich sehr, wenn ich frustriert oder antriebslos bin", erklärt er im Gespräch mit FIFA.com. Ein Jahr und vier Monate nach der Veröffentlichung dieser 45 Zeichen aus einem Motivationsbuch, das ihm sein Agent geschenkt hatte, leuchtet der Stern von Roger Martínez hell am Fussballhimmel. Der 21-Jährige gehört zu den Aushängeschildern im Sturm von Racing und spielte bei der Qualifikation Kolumbiens für das Olympische Fussballturnier der Männer 2016 in Rio eine Schlüsselrolle, als er beim 2:1-Sieg gegen die USA im Playoff-Rückspiel beide Treffer erzielte.

"Ich war sehr zuversichtlich, dass wir als Team an diesem Abend eine gute Leistung bringen könnten, aber ich hätte nie gedacht, dass ich persönlich ein solches Erfolgserlebnis feiern würde. Der Fussball macht einem manchmal sehr schöne Geschenke", meint er mit Blick auf den Abend in Texas, an dem sein Team sich gegen die USA durchsetzte, nachdem das Hinspiel in Barranquilla mit einem wackligen 1:1-Unentschieden geendet hatte. Die Erwartung, sich zum ersten Mal seit Barcelona 1992 wieder für die Olympischen Spiele zu qualifizieren, schien sich vor eigenem Publikum negativ auszuwirken. Dann sollte sich das Blatt doch noch wenden.

"Wir standen nicht unter Druck. Wir waren hoch motiviert und weil wir eine sehr geschlossene Gruppe sind, fast wie eine Familie, haben wir das gute Ergebnis erreicht, das wir brauchten."

Einmal abgesehen vom großen Zusammenhalt innerhalb der Mannschaft hat laut Martínez im Vorfeld des Rückspiels auch der Psychologe Rafael Zabaraín eine wichtige Rolle gespielt. Zabaraín hatte bereits die kolumbianische Delegation psychologisch unterstützt, die 2012 in London acht Medaillen gewann und setzte seine Erfahrungen gezielt ein. "Vor dem Spiel zeigte er uns ein Video vom Aufenthalt im Olympischen Dorf, von allen Annehmlichkeiten, die es dort gab", berichtet Martínez. "Das hat mich und das gesamte Team sehr motiviert. Das sind Dinge, von denen man sich gar keine Vorstellung macht. Das hat uns sehr geholfen, das erforderliche Ergebnis zu erzielen. Wir haben das gesehen und wollten die Olympischen Spiele auf keinen Fall verpassen."

Für einen Jungen, der aus bescheidenen Verhältnissen in Cartagena de Indias stammt und laut eigenen Angaben mit seinen Freunden gern barfuß auf der Straße spielte, besonders bei Regen, weil es dort so heiß war, ist die Teilnahme an den Olympischen Spielen eine große Sache: "Das nimmt in meiner Karriere einen sehr hohen Stellenwert ein."

Martínez ist erklärter Bewunderer seiner Landsmänner Teófilo Gutiérrez und Carlos Bacca. An "Teo" gefällt ihm vor allem seine Stärke im Abschluss, an Bacca das Stellungsspiel und die Flanken. Martínez' Werdegang lässt sich mit dem von Radamel Falcao vergleichen, der mit 15 Jahren nach Argentinien kam, und zwar zu CA River Plate. Er selbst wagte mit 17 den Schritt von Estudiantil de Medellín zu den Boca Juniors. Dort durfte er zwar trainieren, aber nicht spielen, weil er Ausländer und noch minderjährig war und seine Eltern nicht bei ihm waren. So musste er schließlich in sein Heimatland zurückkehren, dachte jedoch nicht daran, aufzugeben.

"Ich habe viel nachgedacht. In Kolumbien kannte man mich und ich konnte problemlos bei einem Erstligisten spielen. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte herkommen und kämpfen, denn der argentinische Fussball ist anders, er steht sehr im Rampenlicht. Das hat mir immer gefallen."

Daher entschied er sich, einen zweiten Anlauf in Argentinien zu unternehmen. Bei den Argentinos Juniors und Estudiantes de La Plata wurde es nichts, doch als er bereits 18 Jahre alt war, ergab sich eine Chance bei Racing. "Ich verdanke Racing viel. Der Klub hat mir die Chance gegeben, in der ersten Liga zu spielen und Profi zu werden."

Allerdings war der Weg zum Erfolg, wie wir bereits wissen, mit vielen Hindernissen gepflastert. Zunächst einmal fehlten ihm seine Lieben: "Es ging mir nicht gut, ich litt darunter, dass meine Familie so weit weg war." Und dann war auch seine Vorliebe für die deftige Küche seiner Großmutter nicht gerade zuträglich. "Ich achtete nicht auf die richtige Ernährung und hatte niemanden, der mich in fussballerischer Hinsicht beriet. Aber aus Fehlern lernt man." Hinzu kam, dass er anfangs kaum zum Einsatz kam. Doch er gab nicht auf, was einerseits an seinem Naturell liegt, andererseits aber auch am Engagement seines Agenten, des ehemaligen argentinischen Fussballers Fernando López.

"Wenn es nicht gut läuft, musst du umso mehr Kräfte mobil machen, um weiterzukommen", meint er. Bei Santamarina de Tandil hinterließ er keine Spuren, doch dieser Satz, den er damals twitterte, sollte sich für ihn bewahrheiten. Im Jahr 2015, in dem er an Aldosivi de Mar del Plata ausgeliehen war, einen Klub, der kürzlich in die erste Liga aufgestiegen war, wusste er zu glänzen. Sechs Tore, sechs Vorlagen, eine gute Technik und seine Durchschlagskraft trugen entscheidend dazu bei, dass ein eigentlich zum Abstiegskampf verdammtes Team am Ende im Tabellenmittelfeld landete.

2016 profitierte dann endlich auch Racing von seinem Können: ein Hackentor gegen die Boca Juniors, ein wunderschöner Treffer gegen Bolívar in der Copa Libertadores und zwei weitere Tore stehen für ihn zu Buche, und das in einem Team, in dem Diego Milito und Lisandro Licha López als Angriffsstars aktiv sind.

"Das ist die beste Phase meiner Karriere. Ich bin sehr glücklich. Wenn ich einen Gegenspieler vor mir sehe, denke ich nur daran, wie ich an ihm vorbeikommen kann. Meine Teamkameraden und die Trainer bei Aldosivi haben mir sehr geholfen, mir viel Selbstvertrauen gegeben. Und als ich zu Racing zurückkehrte, war es dort ebenso."

Beim Olympischen Fussballturnier in Rio stehen Kolumbien mit Martínez, Andrés Rentería und vielleicht Radamel Falcao ungemein torgefährliche Spieler zur Verfügung. Daher träumen die Kolumbianer davon, zum ersten Mal die Gruppenphase zu überwinden, in der sie gegen Schweden, Japan und Nigeria antreten müssen. "Wir haben ein menschlich sehr starkes Team mit hervorragenden Einzelspielern. Wir werden versuchen, immer mit der Spielfreude ans Werk zu gehen, die für uns Kolumbianer charakteristisch ist. Hoffentlich trägt diese Spielfreude auf dem Platz Früchte und wir können ein gutes Turnier spielen."