Freitag 15 Januar 2016, 09:23

Kampf um die Vorherrschaft an der Rhône

Auf der Reise zu den ältesten Derbys der Welt macht FIFA.com heute im Zentrum Frankreichs Station, wo die ewige Rivalität zwischen Olympique Lyon und AS Saint-Etienne all das beinhaltet, was die Begegnungen zwischen beiden Klubs stets ins Rampenlicht rückt und ihnen in aller Regel einen ganz besonderen Stempel aufdrückt. Dies umso mehr, da das "Rhône-Derby" als solches für die sportliche Rivalität innerhalb einer Region steht, in der es an Klischees nicht gerade mangelt. Denn ein Derby verkörpert immer auch eine Art Karikatur, die sich auf bestimmte Erscheinungen in der Gesellschaft der jeweiligen Region bezieht. In diesem Fall handelt es sich bei den Gegenspielern um die Arbeiter und den Mittelstand, die den Kampf der Leidenschaft gegen die Logik, der Wunschträume gegen die Realität, symbolisieren sollen.

Die AnfängeObwohl Lyon und Saint-Etienne gerade mal 50 Kilometer voneinander entfernt sind, hat sich in beiden Städten eine höchst unterschiedliche und stark ausgeprägte Identität entwickelt. Dafür gibt es eine einfache Erklärung, die in wenigen Worten den tatsächlichen Charakter der beiden Städte widerspiegelt: Während Lyon überwiegend vom Mittelstand geprägt ist und eine bürgerliche Fassade besitzt, gilt Saint-Etienne als Arbeiter-Hochburg. Angesichts der räumlichen Nähe zwischen den beiden Städten treten die Gegensätze auf sozialer, historischer und kultureller Ebene natürlich ebenso offen zu Tage wie im Bereich des Sports, und all diese Kriterien sind untrennbar miteinander verbunden. Kein Wunder also, dass die Erfolge, die AS Saint-Etienne in den 70er Jahren sowohl im nationalen Rahmen als auch auf der internationalen Fussballbühne feierte, für die kriselnde Stadt eine willkommene Gelegenheit darstellte, aus dem Schatten des bürgerlichen Lyon zu treten, das zwar als wohlhabende Kulturstadt galt, dafür aber keine sportlichen Erfolge aufzuweisen hatte.

Zum ersten Aufeinandertreffen zwischen beiden Städten auf dem Fussballrasen kam es im Jahr 1951. Damals behielt Olympique Lyon die Oberhand, was sich jedoch schon bald ändern sollte. Und in der Gesamtbilanz der direkten Begegnungen hat die traditionell in grünen Trikots spielende Mannschaft aus der Nachbarstadt sogar die Nase vorn, was vor allem auf deren goldene Ära in den 70er Jahren zurückzuführen ist, als die grüne Vereinsfahne ganz Frankreich eroberte, während Olympique Lyon Mühe hatte, sich im oberen Tabellendrittel zu etablieren.

Nach dem bislang letzten Meistertitel im Jahr 1981 verblasste der Glanz von AS Saint-Etienne allerdings zusehends. Doch es sollte noch schlimmer kommen: Je mehr es mit den Grünen bergab ging, desto schneller ging es mit dem Erzrivalen aus Lyon nach oben. Denn dort hatte inzwischen Jean-Michel Aulas die Präsidentschaft des Klubs übernommen. Unter seiner Führung entwickelte sich OL Schritt für Schritt weiter, um schließlich die absolute Vorherrschaft im französischen Fussball zu erobern.

Ein paar ZahlenWas die Gesamtstatistik der direkten Aufeinandertreffen anbelangt, so liegt AS Saint-Etienne mit 41 Siegen und 32 Unentschieden gegenüber 38 Siegen seitens Olympique Lyon aus 111 Pflichtspielen, davon fünf im französischen Pokal, immer noch vorn. Da erscheint es nur logisch, dass man in Lyon neben der Nummer eins in der französischen Meisterschaft auch bei den Derbys als Sieger vom Platz gehen wollte. In den letzten zwanzig Jahren hat Saint-Etienne von den 32 gespielten Derbys jedoch nur drei gewonnen, untre anderem aber die prestigeträchtige 100. Auflage.

Während Hervé Revelli von AS Saint-Etienne bislang mit elf Treffern der erfolgreichste Derby-Torschütze ist, stellt Olympique Lyon mit Serge Chiesa und Yves Chauveau, die bei 28 bzw. 23 Derbys mit von der Partie waren, die Spieler mit den meisten Derby-Teilnahmen. AS Saint-Etienne wiederum kann für sich in Anspruch nehmen, das bisher torreichste Spiel (das 5:4 vom 22. September 1963 in Lyon) für sich entschieden zu haben. Andererseits hat Olympique Lyon die vier einzigen Spieler in seinen Reihen, denen in einem Derby ein Hattrick gelang: Fritz Woehl (1951), Angel Rambert (1963), Fleury Di Nallo (1971) und Alexandre Lacazette (2015).

Anekdoten und SprücheWie um jedes Derby ranken sich auch um das an der Rhône eine Menge Geschichten, die von seinen Helden und dessen Sprüchen erzählen. So äußerte Jean Snella, Trainer von AS Saint-Etienne, wenige Tage nach einem verlorenen Pflichtspiel gegen den benachbarten Erzrivalen im Jahr 1967, dass sich Lyon in seinen Augen einen viel zu zögerlichen Auftritt geleistet habe (im Französischen "jouer la carotte"), weil die Mannschaft nach der frühen Führung nur noch abgewartet habe und jegliche Initiative vermissen ließ. Beim nächsten Aufeinandertreffen in der französischen Meisterschaft nahmen ihn dann die Lyoner Fans beim Wort und warfen tatsächlich Karotten aufs Spielfeld! Eine davon traf den gegnerischen Stürmer Georges Bereta am Kopf. Der aber reagierte gelassen und hob das "Wurfgeschoss" auf, um es sich schmecken zu lassen. Eine Geste, die seine Mitspieler zusätzlich motivierte, so dass AS Saint-Etienne die Partie am Ende mit 2:1 gewann. Ein paar Jahrzehnte später war es der damalige Torjäger Bernard Lacombe - heute im Betreuerstab von Olympique Lyon tätig - der anlässlich des Wiederaufstiegs von AS Saint-Etienne in Frankreichs Ligue 1 ein ganz spezielles "Grußwort" an die Adresse des ewigen Rivalen sandte: "Es ist schön, dass wir in dieser Saison mit den Grünen unser Wiedersehen feiern können. Das bringt uns sechs Punkte und eine sichere Einnahmequelle!"

Die GegenwartIhre Blütezeit erlebten die Derbys zwischen AS Saint-Etienne und Olympique Lyon vor allem in den 70er Jahren sowie danach noch einmal in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende. Sicher, dank seiner glorreichen Vergangenheit genießt der Verein aus Saint-Etienne in Frankreich immer noch Kultstatus. Andererseits sind die goldenen Zeiten der Mehrzahl seiner Fans gar nicht aus eigenem Erleben bekannt. Ihnen wäre es lieber, wenn die Erfolge von damals auf die heutige Zeit übertragen werden könnten. In Lyon ist das Gegenteil der Fall, denn dort wuchs die Trophäensammlung in den letzten zehn Jahren ständig an. Was indes die allgemeine Sympathie auf nationaler Ebene betrifft, so bleibt diese nach wie vor hinter der für den Nachbarn aus Saint-Etienne zurück.

Doch an all das denkt an dem Tag, da sich beide Teams erneut auf dem Rasen gegenüberstehen, niemand mehr. Denn dann zählen weder das Vergangene, noch der aktuelle Tabellenstand oder irgendwelche Statistiken. Abgesehen von der Tatsache, dass Olympique Lyon natürlich auch in der Region den Ton angeben will, brauchen die derzeit auf Position sechs liegenden auch unbedingt drei Punkte aus dem Derby, um den Anschluss an die internationalen Plätze nicht ganz zu verlieren. AS Saint-Etienne hingegen belegt derzeit punktgleich mit dem Erzrivalen Rang Sieben der Tabelle und will daher mit einem Dreier unbedingt vorbeiziehen.