Sonntag 18 Februar 2018, 08:48

Roberto Baggio: Italiens "göttliche Grazie"

orz4ohfhu7cscfb6b0yp.jpg

Roberto Baggio ist in keine Schublade einzuordnen. Von seiner überdurchschnittlichen Begabung her vergleichbar mit Johan Cruyff, ähnelt sein starker Charakter dem von Eric Cantona. Kurzum, Baggio wird für immer als besonderer Typ eines Weltklassefussballers gelten. Dessen ungeachtet schaffte es der in seiner aktiven Zeit als Spieler wegen seiner atypischen Art und seines begnadeten Torinstinkts bekannte Stürmer, der dank seiner zu einem kleinen Zopf gebundenen Haarpracht mit dem Spitznamen "das göttliche Zöpfchen" bedacht wurde, zu einer wahren Legende des italienischen Fussballs aufzusteigen.

Heute, am 18. Februar 2022, feiert der Italiener seinen 55. Geburtstag.

Die Geschichte von Roberto Baggio ist die eines geborenen Angreifers, den die Natur mit einem überdurchschnittlichen Talent ausgestattet hat. Dennoch musste er neben erstaunlichem Mut auch eine Menge Geduld und Opfer aufbringen, um sich nach wiederholter Verletzung am rechten Knie immer wieder aufzuraffen und sich schließlich durchzusetzen. Als Spieler, der fast immer den richtigen Instinkt für den Weg zum gegnerischen Tor hatte und der seine wenig beeindruckende Körpergröße und Physis (1,74 Meter groß, 73 kg schwer) durch eine unvergleichliche Technik und eine außergewöhnliche Spielübersicht wettmachte, verbrachte der stets elegant wirkende Baggio seine gesamte Karriere – vom Beginn beim Drittligisten Lanerossi Vicenza im Jahr 1982 bis zum Ende seiner aktiven Laufbahn im Jahr 2004 bei Brescia Calcio – in seinem Heimatland Italien.

Zigtausende Fans aus aller Herren Länder wurden vom Charme dieses in kein Schema passenden Spielmachers und Torjägers, der es in Italiens Serie A auf insgesamt 204 Treffer brachte, schlichtweg überwältigt. "Baggio ist keine klassische Nummer neun. Und auch keine zehn, sondern vielmehr eine 'halbe' Nummer zehn", so der einstige UEFA-Präsident Michel Platini über seinen damaligen Nachfolger bei Juventus Turin.

Italien liegt ihm zu Füßen eine fussballerische Ausbildung erhielt der in Caldogno, einem kleinen Ort in der Region Venezien geborene Baggio einst bei Lanerossi Vicenze. Nachdem er in den dortigen Nachwuchsmannschaften in 120 Spielen 110 Tore geschossen hatte, feierte er als gerade einmal 15-Jähriger sein Debüt in der ersten Mannschaft. In der letzten Partie der Saison 1984/85 gegen Rimini Calcio, das seinerzeit von einem gewissen Arrigo Sacchi als Trainer betreut wurde, erlitt Baggio jedoch eine schwere Verletzung am rechten Knie. Danach vergingen anderthalb Jahre, bevor er nach einer schier unendlichen Reha-Zeit wieder spielen konnte. Es war die erste einer Serie von Langzeitverletzungen, die den Stürmer in der Folge immer wieder zurückwerfen und seine Karriere gefährden sollten.

Während dieser langen Zwangspause durchlebte Baggio eine tiefe psychische Krise, die ihn dazu veranlasste, zum Buddhismus zu konvertieren. "Das hat mir geholfen, meine Sinne besser unter Kontrolle zu bekommen", so der bekennende Buddhist, der sich vor den Spielen immer zur stillen Meditation zurückzog.

Nach überstandener Verletzung stürmte er fünf Jahre für den AC Florenz (39 Tore in 94 Spielen), wo man ihn noch vor seiner Knieverletzung unter Vertrag genommen und danach 18 Monate auf sein Mannschaftsdebüt gewartet hatte. Eine Geste, die Baggio nie vergessen wird. Dies wurde unter anderem im April 1991 deutlich, als er bereits seine erste Saison bei Juventus Turin spielte und sich in der Partie gegen seinen Ex-Klub weigerte, einen Elfmeter zu schießen, um unmittelbar danach demonstrativ seine früheren Tifosi aus Florenz zu grüßen, die seinen Wechsel nach Turin mit Argwohn begleitet hatten.

Der endgültige Durchbruch Die fünf Spielzeiten bei Juve brachten Baggio den endgültigen Durchbruch und wurden zu den erfolgreichsten seiner Karriere. Davon zeugen ein Meistertitel, ein Pokalsieg und ein Triumph im UEFA-Pokal ebenso wie die Übernahme der Kapitänsbinde und die Auszeichnung als FIFA Weltfussballer des Jahres 1993. Überdies erzielte er für Juventus Turin insgesamt 78 Treffer und machte nach seinem Nationalmannschaftsdebüt im Jahr 1988 auch international von sich reden. Nach seiner Rückkehr von der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft™ USA 1994 ereilte ihn jedoch erneut das Verletzungspech. Es geschah im Punktspiel gegen Calcio Padua, nachdem er noch kurz zuvor ein herrliches Tor für sein Team geschossen hatte. Wieder musste Baggio fünf Monate pausieren und dabei zudem mit ansehen, wie unter dem neuen Trainer Marcello Lippi ein junges Talent zu seinem Nachfolger avancierte. Die Rede ist von Alessandro del Piero, der fortan von seinem Coach den Vorzug erhielt.

Zum Leidwesen der Juve-Fans wurde Baggio 1995 an den AC Mailand verkauft, wo er neben George Weah und Dejan Savicevic spielte und in seinem ersten Jahr erneut italienischer Meister wurde. Trotz seiner Tore und seiner technischen Fähigkeiten, zu denen vor allem seine exzellente Ballführung zählte, machte Baggio aber auch in Mailand sein rechtes Knie zu schaffen. Hinzu kamen größere Meinungsverschiedenheiten mit mehreren seiner Trainer. "Im modernen Fussball ist für Schöngeister kein Platz mehr", erwiderte ihm Oscar Tabarez, als sich Baggio zu Beginn der Saison 1996/97 darüber beschwerte, dass er nicht genügend Einsatzzeit bekomme.

Nach einer erfolgreichen Zwischenstation beim FC Bologna, wo er in der Saison 1997/98 auf 23 Treffer kam und damit die beste Torausbeute seiner Karriere erzielte, kehrte Baggio nach Mailand zurück, um von 1998 bis 2000 für Inter aufzulaufen. Allerdings nur mit mäßigem Erfolg, so dass Baggio schließlich seine letzten vier Profijahre bei Brescia Calcio absolvierte, wo er in 95 Pflichtspielen 45 Tore schoss und seiner Mannschaft damit vier Mal zum Klassenerhalt in der Serie A verhalf. Seinen Abschied von der nationalen Fussballbühne nahm Baggio am 16. Mai 2004 im Auswärtsspiel von Brescia Calcio gegen AC Mailand. Als er fünf Minuten vor Spielschluss beim Stand von 4:2 für die Gastgeber ausgewechselt wurde, wurde er von den rund 80.000 Zuschauern im Giuseppe-Meazza-Stadion mit minutenlangen stehenden Ovationen verabschiedet.

Der Elfmeter-"Fluch" Auch in der Nationalmannschaft erlebte Baggio Höhen und Tiefen. Nachdem er im November 1988 bei seinem Debüt in der _Squadra Azzurra _gegen die Niederlande (1:0) überzeugt hatte, gelang ihm am 22. April 1989 im Länderspiel gegen Uruguay sein erster Freistoßtreffer. Bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft™ Italien 1990 beließ ihn Nationaltrainer Azeglio Vicini zunächst auf der Ersatzbank. Als er dann im letzten Gruppenspiel gegen die Tschechoslowakei erstmals zum Einsatz kam, erzielte Baggio auf Anhieb einen denkwürdigen Treffer: Nachdem er aus der eigenen Hälfte heraus mit dem Ball in Richtung gegnerisches Tor gestartet war, zog er an mehreren Gegenspielern vorbei, bevor er den Angriff mit dem schönsten Tor des Turniers abschloss, das als eines der schönsten WM-Tore in die Geschichte einging.

Trotz dieser Meisterleistung wurde Baggio später im Halbfinale, in dem sein Team gegen Argentinien im Elfmeterschießen das Nachsehen hatte, erst in der 73. Spielminute eingewechselt. "Vicini sagte zu mir gesagt, dass ich müde aussehen würde. Ich war damals 23 Jahre alt! Und ich hätte alles dafür gegeben, um in dieser Partie von Beginn an zu spielen", bedauert Baggio noch heute. Als kleines Trostpflaster steuerte er dann im "Kleinen Finale" gegen England (2:1) erneut einen Treffer bei.

Vier Jahre später bei der FIFA WM in den USA befand sich Baggio dann in der Form seines Lebens. Dank seiner Tore in der Schlussphase gegen Nigeria und Spanien sowie seiner beiden Treffer im Halbfinale gegen Bulgarien sicherte sich der dreifache Weltmeister die Finalteilnahme. Doch ausgerechnet vor dem Endspiel litt Baggio unter Unwohlsein und musste deshalb sogar ärztlich behandelt werden. Als nach Ablauf der regulären Spielzeit und der anschließenden Verlängerung in einer insgesamt blassen Partie immer noch keine Entscheidung gefallen war, trat Baggio als letzter Schütze zum Elfmeterschießen an. Doch sein Schuss strich über den Querbalken und beendete damit den Traum der Italiener vom vierten WM-Titel. "Ich habe das Ganze sehr bewusst erlebt, und ich war voll konzentriert. Auf der anderen Seite war ich derart erschöpft, dass ich es mit der Brechstange versucht habe", so Baggio im Rückblick.

Beim WM-Turnier 1998 in Frankreich verhinderte Baggio im ersten Gruppenspiel gegen Chile mit seinem Elfmetertor zum 2:2-Endstand einen Überraschungssieg der Südamerikaner. Zuvor hatte er bereits beim ersten Treffer seiner Mannschaft durch Christian Vieri die Vorarbeit geleistet. Trotzdem entschied sich Italiens Trainer Cesare Maldini rund 30 Jahre nach dem Machtkampf zwischen Sandro Mazzola und Gianni Rivera in Mexiko 1970, Roberto Baggio und Alessandro del Piero im Wechsel spielen zu lassen. Zwar kam Baggio im Vorrundenspiel gegen Österreich noch zu seinem neunten WM-Tor und erwies sich danach im Viertelfinale gegen Frankreich, in dem die Entscheidung erneut im Elfmeterschießen fiel, wieder als zuverlässiger Schütze, am Ende jedoch konnte auch er das Ausscheiden der Nazionale gegen den späteren Weltmeister nicht verhindern.

Um ein Haar hätte der Meister des Comeback im Jahr 2002, als er in Brescia Tore wie am Fließband produzierte, noch ein viertes Mal an einer WM-Endrunde teilgenommen. Doch der damalige Nationaltrainer Giovanni Trapattoni nahm Baggio trotz wiederholter Forderungen seitens der Öffentlichkeit nicht mit zum WM-Turnier, wo für Italien dann bereits im Achtelfinale Endstation war.

Erinnerung an Baggio noch im ganzen Land lebendig Am 15. Mai 2004 beendete Baggio seine Nationalmannschaftskarriere, um fortan als Ehrenbotschafter der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) tätig zu werden. In seiner neuen Funktion war Baggio in der ganzen Welt unterwegs, um für humanitäre Großprojekte zu werben. Im November 2010 wurde er für sein soziales Engagement in Hiroshima mit dem "World Peace Award" ausgezeichnet, der jährlich vom Friedensnobelpreis-Komitee vergeben wird. "Im Vergleich mit dieser Ehrung nehmen sich all meine persönlichen und sportlichen Erfolge geradezu bescheiden aus", so der Kommentar von Baggio anlässlich der Preisverleihung.

Mit dem Fussball in seiner italienischen Heimat völlig abgeschlossen hat Baggio aber trotzdem nicht. Nach dem Scheitern der Nazionale in Südafrika 2010 nahm er das Angebot an, innerhalb des italienischen Fussballverbandes einen verantwortlichen Posten zu übernehmen. Dort widmete sich der Ex-Nationalspieler vor allem der Ausbildung im Jugend- und Juniorenbereich.