Montag 09 November 2020, 10:39

Alfaro: "Werde aus ganzer Seele für Ecuadors WM-Qualifikation kämpfen"

  • Gustavo Alfaro spricht in einem Exklusiv-Interview mit FIFA.com

  • Der Argentinier über seine Karriere und die Amtsübernahme in Ecuador

  • Der Trainer analysiert den Start der WM-Quali und wirft einen Blick in die Zukunft

Gustavo Alfaro war beim Start der Südamerika-Qualifikation für die FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Katar 2022™ erst knapp zwei Monate im Amt und lässt schon ganz Ecuador von der WM-Teilnahme träumen.

Der Argentinier, der in Ecuador seine erste Erfahrung als Nationaltrainer macht, übt sich jedoch in Zurückhaltung. "Die Herausforderung besteht darin, diesen Traum innerhalb von anderthalb Jahren Wirklichkeit werden zu lassen", meint er in seinem ersten Exklusiv-Interview mit FIFA.com seit seiner Amtsübernahme am 26. August.

Alfaro blickt auf eine kurze Karriere als Mittelfeldspieler bei Atlético Rafaela zurück, die von 1988 bis 1992 dauerte. Wenige Monate, nachdem er die Fussballschuhe an den Nagel gehängt hatte, übernahm er dort seinen ersten Trainerposten. Seitdem war er, abgesehen von einem kurzen Intermezzo in Saudiarabien, immer in seinem Heimatland tätig. Darüber hinaus analysierte er die letzten vier Weltmeisterschaften als Experte eines TV-Senders. Im Interview mit FIFA.com spricht er über all diese Themen.

Gustavo, warum war Ihre Spielerkarriere so kurz?

Der Fussball ist seit jeher meine Leidenschaft. Ich habe nicht nur für Atlético Rafaela gespielt, sondern bin praktisch mit dem Klub aufgewachsen, weil meine Eltern dort Funktionäre waren. Ich habe von der ersten Liga geträumt, im Radio Fussball gehört und Tabellen gesteckt, aber von Rafaela schien der Weg dorthin weit zu sein, und ich habe ein Chemiestudium aufgenommen.

Dann waren wir in einem Jahr beim Regionalturnier dabei und sind von dort in die B Nacional (die zweite Liga) aufgestiegen. Ich habe meinem Vater versprochen, eine Weile zu spielen und mein Studium später fortzusetzen. Das habe ich drei Jahre später auch getan. Doch am Ende hat der Fussball gewonnen und ich beschloss, den Traum, den ich als Spieler hatte, als Trainer umzusetzen. Mit 30 habe ich bereits hauptberuflich als Trainer gearbeitet.

Jetzt sind Sie Nationaltrainer Ecuadors. Wie viel von dem damaligen Spieler steckt noch in Ihnen und fließt in die Tätigkeit ein?

Sehr viel. Da sind zunächst einmal die Werte, die nicht verhandelbar sind. Und dann die Tatsache, dass ich mich nie geschlagen gebe und weiß, dass es immer einen Weg gibt. Das sage ich auch meinen Töchtern und meinen Spielern: 'Es ist gut, Träume zu haben, aber gebt euch nicht damit zufrieden, sondern fangt eure Träume ein.' Ich musste schwierige Entscheidungen treffen, aber ich hatte und habe das Glück, meine Träume verwirklichen zu können.

Glauben Sie, dass sich diese Chance genau im richtigen Moment Ihrer Karriere ergeben hat?

Ich bin 58 Jahre alt, und mir ist nichts zugeflogen. Erfolge erreicht man nicht von heute auf morgen. Mit 34 war ich als Trainer in der zweiten Liga tätig und dachte, meine nächste Station wäre die erste Liga. Ein Jahr später fand ich mich dann in der dritten Liga wieder. Die Realität bringt dich manchmal zum Schweigen und verweist dich auf deinen Platz!

Inwieweit war deine Rolle als Fernsehexperte bei den Weltmeisterschaften hilfreich für das Erreichen der jetzigen Position?

Für mich war die Berichterstattung von der WM wie ein Master-Studiengang. Ich habe mir nicht nur Spiele angeschaut, sondern auch über Fussball geredet, vor allem mit Trainern. Ich habe Verhaltensweisen analysiert und Gedankenspiele gespielt: 'Was bezweckt er mit dieser Entscheidung?' 'Was würde ich an seiner Stelle tun?' Ich habe Profile von Trainern unter die Lupe genommen, die entscheidenden taktischen Einfluss hatten – auf der Suche nach Mustern, die ich mir zum Vorbild nehmen könnte: 'Wenn ich eines Tages in dieser Situation bin, möchte ich es so machen'.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?

2014 hat Argentinien in der Hintermannschaft mit einher Dreier- oder Fünferkette begonnen. In der zweiten Halbzeit des ersten Spiels stellte Sabella auf ein 4-4-2 um und stieß mit dieser Taktik bis ins Finale vor. Bei derselben WM hat Algerien gegen Deutschland die Wege über die Außenbahnen dicht gemacht und mit einem schnellen Stürmer gefährliche Konter gefahren. Damit war Neuer gezwungen, als Libero zu agieren. Löw löste das Problem in der Verlängerung mit einem vertikal agierenden Mittelfeldspieler wie Khedira durch die Mitte. Louis van Gaal wechselte vor einem Elfmeterschießen den Torwart und hatte damit Erfolg. Solche Entscheidungen, die den Verlauf eines Spiels oder eines Turniers verändern, möchte ich treffen.

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Gibt es einen Klub in Ihrer Trainerlaufbahn, der Sie besonders gut auf die aktuelle Aufgabe vorbereitet hat?

Dem Traineramt bei einem Nationalteam liegt ein Reifeprozess zugrunde, aber ich weiß, dass ich wegen meiner Tätigkeit für Boca hier bin. Ich war schon mehr als einmal für ein solches Amt im Gespräch, aber da ich bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllte, bezweifelte man, dass ich dem Kader einer Nationalmannschaft gewachsen war. [Die] Boca [Juniors] sind keine leichte Aufgabe. Dort Trainer zu sein bedeutet, praktisch täglich ein Nationalteam zu trainieren, vergleichbar mit einem Nadelöhr, durch das alles hindurch muss. Wenn du diese Station durchlaufen hast, hast du eine ganz andere Ausgangsposition. Trotzdem sind meine vorherigen Tätigkeiten nicht zu vernachlässigen, und ich schätze diese Erfahrungen sehr.

Was hat Sie an dem Projekt Ecuador begeistert?

Das Potenzial. Ich habe die Entwicklung im Jugendbereich verfolgt. Da gibt es eine sehr gute Generation. Außerdem gibt es eine Gruppe interessanter Spieler im Alter von etwa 23 Jahren. In der Altersstufe zwischen ihnen und Akteuren wie Noboa, Domínguez, Valencia ist die Auswahl allerdings nicht so groß. Wenn es mir gelingt, dem Team den Stempel des argentinischen Fussballs aufzudrücken, ohne die grundlegenden Eigenschaften der ecuadorianischen Spieler zu vernachlässigen, kann Ecuador wieder den Platz einnehmen, den es vor sechs Jahren belegt hat. Gleichzeitig darf man sich in den nächsten zehn Jahren Hoffnungen auf eine Wachstumsphase machen.

Was war die größte Herausforderung, als Sie Ihr Amt so kurz vor Beginn der WM-Qualifikation antraten?

Die Kombination aus Zeitknappheit und der Notwendigkeit, Ergebnisse zu erzielen und der Mannschaft ein Profil zu geben. Ich musste die Spieler an die Hand nehmen, auf den Platz gehen und dafür sorgen, dass der erste Eindruck ein guter ist und das Team schnell zusammenwächst. Die Spieler haben hervorragend reagiert und mir die Sache leicht gemacht. Ich fühlte mich sofort willkommen und sie haben versucht, unsere Ideen umzusetzen.

Sie haben nur knapp gegen Argentinien verloren und einen Kantersieg gegen Uruguay eingefahren. Welche Bilanz ziehen Sie nach den ersten Spielen der WM-Qualifikation?

Eine positive Bilanz, denn wir sind gegen zwei der stärksten Teams Südamerikas angetreten. Wir haben gute Spiele abgeliefert, insbesondere gegen Uruguay. Wir befinden uns in einer Situation, in der wir abwarten und unsere Leistungen bestätigen müssen, ohne uns zu sehr von der Euphorie mitreißen zu lassen. Ecuador hat in der letzten Qualifikation in den ersten Spielen zwölf Punkte von zwölf möglichen geholt und sich am Ende nicht qualifiziert. Wer aus der Geschichte nichts lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. Unsere Arbeit fängt gerade erst an, und in dieser Hinsicht sind uns alle anderen voraus.

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Das Team schien gegen Uruguay alle Hemmungen abzulegen. Was hatte sich verändert?

Meiner Auffassung nach hat sich das Auftreten in der zweiten Halbzeit des Argentinien-Spiels geändert. Ich habe den Spielern gesagt, dass sie weder auf das Trikot noch auf die Namen der Gegner achten sollten. Sonst würde es schwer, es mit ihnen aufzunehmen. Sie müssen sich von vorgefassten Meinungen befreien. Dasselbe gilt für das Thema der Spiele in Höhenlagen.

Was meinen Sie damit?

Vor dem Spiel gegen Uruguay habe ich deutlich gemacht, dass ich es satt hatte, zu hören, die Höhenlage sei der wirkliche Gegner: 'Zeigen wir, dass der Gegner derjenige ist, der das Trikot anhat, dass es nicht um geographische, sondern um fussballerische Aspekte geht.' Danach habe ich eine gelöste, frei aufspielende Mannschaft gesehen. Für mich waren alle drei Faktoren sichtbar, die Ecuador braucht, um den Rückstand auf renommiertere Gegner zu verringern.

Welche Faktoren sind das?

Da wäre zunächst einmal eine gewisse Aggressivität. Die Spieler sind von ihrem Biotyp her stark, schnell, dynamisch und technisch versiert, aber für den Ballgewinn ist es manchmal entscheidend, wie man in die Zweikämpfe geht. Dieser Aspekt hat auch Einfluss auf die Taktik. Die Spieler sollten keine Angst davor haben, mit einer hoch stehenden Abwehr zu spielen, die weit von unserem Tor entfernt steht. Dank ihrer Schnelligkeit können sie das wettmachen.

Der zweite Punkt ist die Konzentration. Ich möchte erreichen, dass meine Spieler Situationen und Räume erkennen und jederzeit in der Lage sind, sie zu nutzen. Auf diesem Niveau sind Details entscheidend. Gegen Uruguay haben wir durch Unkonzentriertheiten zwei unnötige Elfmeter verursacht.

Der dritte Punkt ist taktische Disziplin und zu verstehen, warum wir etwas tun. Talent ist erforderlich, reicht aber allein nicht aus. Mit diesen drei Faktoren können wir das Profil bekommen, was ich für die Mannschaft anstrebe.

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Was ist positiv und was negativ daran, dass die drei Gegentore per Elfmeter erzielt wurden?

Das Negative ist, dass alle drei unnötig waren: zwei für Grätschen im Kampf um den Ball im Zeitalter von VAR, wobei mir der gegen Argentinien keiner zu sein schien, und einer für ein Handspiel nach einer Standardsituation. Hier machen kleine Details oft einen großen Unterschied aus.

Gegen Argentinien hat uns der Elfer davon abgehalten, unsere Taktik durchzubringen. Wenn wir mit einem 0:0 in die zweite Halbzeit gegangen wären, hätten wir schnelle Spieler eingesetzt und versucht einen Nutzen daraus zu ziehen, dass sie auf Sieg spielen müssen. Und dann wird eine WM-Qualifikation durch Punkte entschieden, aber auch durch die Tordifferenz. Eine höhere Tordifferenz gegen Uruguay ist daher wie ein zusätzlicher Punkt ...

Das Positive ist, dass wir in der Abwehr energisch waren, aber ich muss mich auf das halb leere Glas konzentrieren.

Wie gehen Sie die Spiele gegen Bolivien und Kolumbien an?

Als Einheit. Ich überlege mir, wie ich gegen Bolivien vom Anfang bis zum Ende spielen will und wie ich gegen Kolumbien vom Anfang bis zum Ende spielen will. Für Bolivien wäre alles andere als ein Sieg ein Nackenschlag für den Umbruch. Für die Bolivianer ist das ein Finale und so werden sie spielen. Darauf müssen wir uns mental einstellen.

Kolumbien ist ein intensiver Gegner mit einer klaren Identität, trotz der subtilen Unterschiede zwischen Pékerman und Queiroz. Außerdem hat das Team in Quito schon gewonnen. Wir müssen intelligent sein, um den Gegner dorthin zu bringen, wo wir ihn haben wollen.

Was halten Sie vom frühen Optimismus, der in Ecuador vorherrscht?

Ecuador ist heute eher eine Handvoll guter Absichten als ein Team. Die Herausforderung besteht wie gesagt darin, einen Traum Realität werden zu lassen. Ich bin nicht hier, um ein Nationalteam zu trainieren, sondern um zu gewinnen. Wo steht zum Beispiel, dass wir nicht die nächste Copa América gewinnen können? Ich stehe mit beiden Beinen fest auf dem Boden, gestehe aber, dass ich frustriert wäre, wenn wir uns nicht für die WM qualifizieren würden. Ich werde aus ganzer Seele dafür kämpfen, dass Ecuador in Katar dabei ist.