Frankreich nutzt seine letzten Chancen

"Weißt du, wie man eine Flasche Champagner wieder verkorkt? Frag‘ die Italiener!" Dieser Witz machte vor allem im Sommer 2000 die Runde. Frankreich hatte im Endspiel der UEFA EURO jenes Jahres eine Squadra Azzurra geschlagen, die in Gedanken schon den Pokal in die Höhe reckte. Die Italiener hatten in der Schlussphase mit 1:0 in Führung gelegen, bevor Sylvain Wiltord der späte Ausgleich und David Trezeguet in der Verlängerung das Golden Goal gelangen.

Und auch bei der EURO 2004 lag der amtierende Europameister gegen England 0:1 zurück, als die Anzeigetafel die 90. Minute anzeigte. Aber ein Freistoßtreffer von Zinedine Zidane und ein Foulelfmeter wenig später, den der französische Spielmacher ebenfalls verwandelte, sorgten dafür, dass Les Bleus das bessere Ende für sich hatten.

Bei "ihrer" UEFA EURO 2016 haben sich die Franzosen wieder an diese gute alte Gewohnheit erinnert. In der Auftaktpartie gegen Rumänien mussten die Gastgeber bis zur 89. Minute warten, bis Dimitri Payet mit einem herrlichen Fernschuss der erlösende Siegtreffer gelang. Ähnlich erging es den Franzosen gegen Albanien. Antoine Griezmann erzielte erst in der 90. Minute die Führung, bevor Payet in der sechsten Minute der Nachspielzeit die endgültige Entscheidung herbeiführte. "Wir konnten wie in den Partien zuvor in den letzten Minuten noch den Sieg erringen", bestätigt André-Pierre Gignac. "Das ist momentan unsere Stärke. Das müssen wir beibehalten, auch wenn wir gerne früher in den Partien treffen würden, um uns die Dinge zu erleichtern."

Mit "momentan" bezieht sich der Angreifer von Tigres auch auf die jüngsten Vorbereitungsspiele. Im März gegen die Niederlande bescherte Blaise Matuidi seinem Team erst in der 88. Minute mit seinem Treffer den 3:2-Sieg. Gegen Kamerun am 30. Mai war es einmal mehr Payet gewesen, der in der 90. Minute mit einem sehenswerten Freistoßtreffer den 3:2-Erfolg sicherte. "Wir sind mental sehr stark und versuchen bis zum Schluss, das Spiel zu gewinnen. Wir haben diesen gemeinsamen Willen, über uns hinauszuwachsen", sagt etwa Olivier Giroud, der erste Torschütze gegen Rumänien. "Wir wollen etwas Großes erreichen, und mit diesem kleinen Plus an Willenskraft wird man bis zur 95. Minute mit uns rechnen müssen."

Geduld und Pressing Aber wenn die Männer von Didier Deschamps gegen Ende so gefährlich sein müssen, heißt das im Umkehrschluss, dass es ihnen nicht gelingt, früher in den Partien die Weichen auf Sieg zu stellen. "Wir werden darüber nachdenken müssen, denn es kostet natürlich jedes Mal viel Kraft und Emotionen, das so zu machen", räumt Payet ein. Er ist sich dessen bewusst, dass es trotz der zwei Siege, die Frankreich die vorzeitige Qualifikation für die nächste Runde einbrachten, noch einiges zu korrigieren gibt. "Es ist gut, dass uns das gelingt, aber wenn wir von Beginn an so auftreten würden wie am Anfang der zweiten Halbzeit, könnten wir leichtere Siege holen."

Mit dieser Bemerkung spielt der offensive Mittelfeldakteur von West Ham auf die schwerfällige erste Halbzeit in der Partie gegen Albanien an. Den Franzosen gelang kein einziger Schuss aufs Tor, gleichzeitig zeigten sie wiederholt Schwächen im Stellungsspiel und in der Ballbehandlung. Vielleicht war es das Ergebnis einer im Vergleich zu den vorangegangenen Spielen ungewohnten Taktik. Paul Pogba und Antoine Griezmann saßen zunächst auf der Bank, um ein 4-2-3-1-System mit dem jungen Kingsley Coman und Anthony Martial zu ermöglichen. Mit der Hereinnahme von Pogba zur Halbzeit und der Rückkehr zu einem 4-3-3 schienen sich Les Bleus wohler zu fühlen. Die Automatismen kehrten zurück und das Team konnte die Entscheidung erzwingen. "Die Änderung des Systems ermöglichte es uns, ein höheres Pressing zu spielen und die Bälle weiter vorne zu erobern, so dass wir unsere Angriffe nicht über 80 Meter aufbauen mussten", analysiert der Kapitän Hugo Lloris, der von seinem Posten aus das Gesamtbild im Blick hat. "Wenn man die Zweikämpfe gewinnt und bei der Balleroberung Raum gut macht, stehen wir näher am gegnerischen Tor. Wir sind dafür belohnt worden, diese Verteidigung unter Druck zu setzen."

Die Belohnung ist der vorzeitige Einzug ins Achtelfinale. Zuvor jedoch wird sich das französische Team am letzten Spieltag der Gruppe A mit der Schweiz um den ersten Platz duellieren. Sollten die Eidgenossen in der Schlussphase mit einem Tor in Führung liegen, wären sie gut beraten, noch einige Sekunden zu warten, bevor sie die Champagnerflaschen köpfen…