Sowohl für die Anhänger der teilnehmenden Teams als auch für neutrale Fußballfans in aller Welt ist die K.-o.-Phase der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Katar 2022™ bisher ein großes Spektakel voller Emotionen. Für die Technische Studiengruppe (TSG) der FIFA liefern die K.-o.-Duelle hingegen auch viele wertvolle Erkenntnisse. Nach dem Viertelfinale fassten die Experten unter Leitung von Jürgen Klinsmann bei ihrer vierten Pressekonferenz ihre Einschätzungen zusammen. Neben dem ehemaligen deutschen Auswahlkapitän fanden sich auch Alberto Zaccheroni, Cha Du-Ri, Sunday Oliseh, Faryd Mondragon und Pascal Zuberbühler auf der Bühne wieder. Die TSG-Mitglieder stellten dabei die nachfolgenden Beobachtungen und Trends heraus.
Medienbriefing der Technischen Studiengruppe
Die Halbfinalisten
Alberto Zaccheroni: Mein Eindruck vom Turnier ist bisher positiv. Im Halbfinale stehen vier Mannschaften, die auf ganz unterschiedliche Spielstile setzen. Alle vier Teams haben diesen Schritt dank der Qualität ihrer Spieler erreicht, im Vergleich zu früheren Turnierauflagen spielte allerdings auch die Ordnung der gesamten Mannschaft eine wichtige Rolle. Die Teams agierten defensiv kompakter und dynamischer, wobei ihre Abwehrlinien etwas tiefer standen. Weiterhin haben die Halbfinalisten versucht, die Qualitäten ihrer besten Spieler optimal auszunutzen. So steht Kroatien vor allem dank des erstklassigen Mittelfelds in der Vorschlussrunde, das wirklich außergewöhnlich agiert – nicht nur fussballerisch, sondern auch was die Arbeit auf dem Platz und den Einsatz betrifft. Wir haben gesehen, wie sie in Räume vorgedrungen sind, sich gegenseitig abgesichert haben, zwischen den Linien agierten und ihre eigene Defensivreihe unterstützten. Marokko hat einen hervorragenden Job gemacht, die eigenen Stärken zur Geltung zu bringen. Sie kommen viel über die Flügel und ziehen die gegnerische Defensive dadurch in die Breite. Im Mittelfeld stehen sie sehr kompakt, um den Ball vor der eigenen Abwehrkette zurückzuerobern. Von den vier Halbfinalisten steht Marokko bei gegnerischem Ballbesitz am tiefsten. Sobald sie aber in Ballbesitz kommen, schalten sie mit viel Energie und Schnelligkeit hervorragend um. In Sachen Defensivarbeit waren sich selbst große Namen wie Marokkos Hakim Ziyech oder Frankreichs Antoine Griezmann nicht zu schade, sich für ihre Mannschaft aufzuopfern. Apropos Frankreich: Les Bleus sind die gefährlichste Mannschaft im Strafraum, was einerseits an der Qualität von Olivier Giroud und Kylian Mbappé liegt, andererseits aber auch auf die erstklassige Arbeit der Mittelfeldakteure wie Adrien Rabiot zurückzuführen ist, der 80 Meter auf dem Platz abdecken kann. Noch ein Wort zu den Argentiniern: Meiner Meinung nach ist es ihnen gelungen, sich Spiel für Spiel hervorragend auf den Gegner einzustellen und dabei taktisch variabel zu bleiben. Natürlich profitieren sie auch von der Qualität des besten Spielers dieser WM, Lionel Messi.
Leistungen der Mannschaften aus der asiatischen Konföderation (AFC)
Cha Du-Ri: Die Fortschritte der asiatischen Mannschaften waren offensichtlich. Sie konnten Siege gegen große Fussballnationen einfahren und drei AFC-Vertreter standen im Achtelfinale. Saudiarabien hat gegen Argentinien gewonnen, Japan hat sowohl Deutschland als auch Spanien besiegt und die Republik Korea setzte sich gegen Portugal durch – allesamt starke Mannschaften und große Fussballnationen. Einer der wesentlichen Gründe für diese Erfolge liegt darin, dass viele asiatische Spieler aktuell in Europa unter Vertrag stehen. Als ich selbst noch für die Nationalmannschaft aktiv war, spielten nur zwei von uns bei europäischen Vereinen. Heute allerdings sind viele Australier, Koreaner und vor allem Japaner in Europa unterwegs, einige davon sogar als Kapitän in der Bundesliga. Sie spielen gegen andere europäische Mannschaften, wodurch sie ständig auf höchstem Niveau gefordert werden. Daneben haben die asiatischen Teams aber auch taktisch enorme Fortschritte gemacht. Viele Akteure bringen heute ein viel größeres taktisches Verständnis mit und können auf mehreren Positionen eingesetzt werden. Natürlich hatten die AFC-Vertreter im Achtelfinale ihre Probleme, aber der Abstand zu den Schwergewichten des Weltfussballs wird immer kleiner.
Historischer Erfolg für Afrika
Sunday Oliseh: Für Afrika ist es die beste Weltmeisterschaft aller Zeiten. Nicht nur, weil zum ersten Mal ein Vertreter des afrikanischen Kontinents und der arabischen Welt in einem WM-Halbfinale steht, sondern auch, weil jede afrikanische Mannschaft mindestens ein Spiel bei dieser Endrunde gewonnen hat. Senegal konnte sich mit gutem Fussball für die K.-o.-Phase qualifizieren, obwohl die Mannschaft auf ihren wichtigsten Spieler verzichten musste. Marokko nutzt seine kompakte Defensive besser als jedes andere Team bei diesem Turnier zum eigenen Vorteil aus. Dabei opfern sich alle im Spiel gegen den Ball enorm auf. Dazu haben sie einen Akteur in ihren Reihen, der unglaublich viel arbeitet: Sofyan Amrabat. Was er an Kilometern zurücklegt, um immer wieder die Lücken zu schließen, verdient enormen Respekt. In der Defensive organisieren sich die Marokkaner in Dreiecksformationen. Das macht es ihren Gegnern unglaublich schwer, Pässe an den Mann zu bringen und die Linien zu durchbrechen. Dadurch kassierte Marokko auch erst einen Gegentreffer bei diesem Turnier – und das war ein Eigentor.
Leistung der Torhüter bei Elfmetern
Pascal Zuberbuhler: Die hohe Quote an gehaltenen Elfmetern ist beeindruckend. Als der IFAB die Regel einführte, dass sich der Torwart bei einem Strafstoß mit einem Bein auf der Linie befinden muss, hatten die Schlussleute anfangs Probleme, sich daran anzupassen. Es hieß zunächst, die Neuerung benachteilige die Torhüter. Heute sprechen die Zahlen eine andere Sprache: Bis dato wurden 36 % der Strafstöße (während der 90 bzw. 120 Spielminuten, ohne Elfmeterschießen) gehalten. Faryd Mondragon: Es ist bemerkenswert, wie sich die Torhüter an die neue Regel angepasst haben. Es gehört eine Menge Qualität dazu, um das richtige Timing zu haben, einen Fuß auf der Linie zu lassen und zudem noch explosiv in die richtige Richtung zu springen, um den Ball zu halten. Wir sind sehr glücklich darüber, dass die Torhüter bei dieser WM bis dato so außergewöhnliche Leistungen zeigen. Die vier Keeper, die mit ihren Mannschafen im Halbfinale stehen, waren im bisherigen Turnierverlauf entscheidende Säulen ihrer Teams – nicht nur durch ihre Paraden und ihren Beitrag zum Spielaufbau, sondern vor allem auch durch ihre Qualitäten bei Elfmetern.
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