Carol Anne Chenard war Schiedsrichterin bei den Olympischen Spielen und der FIFA Frauen-Weltmeisterschaft
Die Kanadierin war früher professionelle Eisschnellläuferin
Wegen einer Krebserkrankung verpasste sie Frankreich 2019
Erinnern sie sich noch an den Gesichtsausdruck von Carol Anne, als sie in Steven Spielbergs Horrorklassiker dem Poltergeist begegnet? So entsetzt sieht auch eine andere Carol Anne aus, wenn sie sich heute ansieht, wie Eisschnellläufer mit 50 Stundenkilometern um enge Kurven rasen, in Werbebanden knallen und sich an den rasiermesserscharfen Kufen so verletzten, dass sonst schneeweiße Eisbahnen nach einem Blutbad aussehen und gelegentlich sogar Knochen zu sehen sind.
"Wenn ich mir das heute im Fernsehen anschaue, kann ich nicht fassen, wie verrückt das ist", gesteht Carol Anne Chenard bei FIFA.com. "Wer so etwas macht, hat sie doch nicht alle!"
Damit freilich erklärt sich Carol Anne Chenard im Grunde genommen selbst für unzurechnungsfähig. Denn tatsächlich war die Kanadierin einst selbst professionelle Eisschnellläuferin, gewann sechs Medaillen bei Weltmeisterschaften und war Co-Weltrekordhalterin.
"Ich war knapp fünf Jahre in der Nationalmannschaft", erzählt sie. "Mir hat es gefallen, dass es zwar eine Individualsportart war, das Training aber gemeinsam stattfand und es trotzdem Teamwork gab. Wir haben uns immer gegenseitig gepusht."
"Besonders gern erinnere ich mich an die Weltmeisterschaften. Wir waren zu zehnt im Team – fünf Männer und fünf Frauen – und die Wettkämpfe dauerten drei Wochen. Shorttrack ist total spannend. Wenn man das im Fernsehen sieht, ist es schon echt aufregend, aber erst in der Halle bekommt man mit, wie schnell die Läuferinnen und Läufer unterwegs sind und wie eng die Kurven. Das ist Adrenalin pur."
Kurioserweise hat da also eine Frau den Adrenalinrausch des Eisschnelllaufs gegen den Beruf der Regelhüterin getauscht. Und kurioserweise bezeichnet sie diesen Tausch als "verrückt".
"Als Mädchen habe ich Fussball, Basketball und Volleyball gespielt", sagt Chenard. "Zudem habe ich ganz früh mit Eislaufen angefangen und Leistungsschwimmen betrieben. In meinem ersten Fussballspiel bin ich, glaube ich, neun mal ins Abseits gelaufen, da dachte sich die Trainerin wohl, ich bin eher keine Stürmerin. Auf dem Fussballplatz haben mich eher Laufstärke und Ausdauer ausgezeichnet. Das war perfekt fürs zentrale Mittelfeld."
"Aber mir war klar, dass ich im Fussball an meine Grenzen stoßen würde. Meine sportlichen Ambitionen lagen beim Eisschnelllauf."
"Fussball habe ich zum Spaß weiter gespielt", berichtet Chenard, "und eines Tages sollten wir einen Schiedsrichterkurs belegen, damit wir uns in Regelkunde besser auskennen. Dann habe ich angefangen, in den typischen kanadischen House Leagues Fussballspiele zu leiten. Nicht eine Sekunde habe ich daran gedacht, dass das zu etwas führen könnte. Aber dann hat jemand aus der Liga dem Verband geschrieben, dass sie mich mal beobachten sollten."
"Und mir machte es ja immer mehr Spaß, Schiedsrichterin zu sein. Meine Laufbahn als Eisschnellläuferin neigte sich dem Ende entgegen und ich suchte nach einer Möglichkeit, weiter im Spitzensport aktiv zu sein und zu reisen. Fussballschiedsrichterin zu sein, bot mir genau diese Möglichkeit. Hätte mich jemand vor 20 Jahren gefragt, ob ich FIFA-Schiedsrichterin werden will ... Ich meine, wer will denn das? Das ist doch verrückt, da wird man doch nur angeschrieen. Aber 2006 wurde ich FIFA-Schiedsrichterin."
Chenard stieg rasch auf und leitete bald darauf Spiele bei der FIFA Frauen-Weltmeisterschaft Deutschland 2011™ und dem Olympischen Fussballturnier der Frauen London 2012. Dann bot sich ihr die Chance, während Kanada 2015 auch Begegnungen in ihrer Heimat zu leiten.
Als "ziemlich unbeschreiblich" bezeichnet Chenard das. "Ein Spiel bei einer Weltmeisterschaft zu leiten ist immer und überall surreal – die Atmosphäre und das Gefühl, wenn man bei einer WM den Platz betritt, sind einfach ganz anders. Und es kam ja noch hinzu, dass es in meinem Heimatland war und ich mein erstes Spiel ausgerechnet in Ottawa gepfiffen habe, wo ich inzwischen lebe. Es waren zahlreiche Freunde, Kollegen und Familienmitglieder im Stadion."
"Aber auch mit Blick auf die Leute, die ich nicht persönlich kannte, war es natürlich eine Gelegenheit, meine Leidenschaft zu teilen und zu zeigen, was für ein tolles Land Kanada ist und was für großartige Fussballfans wir haben. Es war eine ganz fantastische Erfahrung für mich."
Chenard, die hauptberuflich für die kanadische Bundesregierung in dem Team arbeitet, das Arzneimittelgesetze verfasst und überarbeitet, hätte in Frankreich 2019 eigentlich an ihrer dritten Weltmeisterschaft teilnehmen sollen. Doch dann ereilte sie das Unheil: Krebs.
"Vier Tage vor dem Abflug nach Frankreich bekam ich die Diagnose", so Chenard. "So eine Krebsdiagnose macht immer Angst, aber richtig aus der Bahn geworfen hat mich, dass ich die WM verpassen würde. Eine meiner ersten Fragen war: 'Können wir die Therapie nicht fünf, sechs Wochen aufschieben?' Es hieß dann recht eindeutig, das sei nicht eben ratsam. Ehrlich, ich war enttäuscht, nicht mit meinen Kolleginnen dabei sein zu können, schließlich hatten wir vier Jahre auf das Turnier hingearbeitet. Aber meine Gesundheit ging vor."
"Am ersten Tag der WM hatte ich meine erste Chemotherapie, aber als Fan war ich in Gedanken trotzdem dabei – als Fan der Schiedsrichterinnen. Das sind meine Kolleginnen und Kollegen. Wir stecken da im Vorfeld einer WM vier Jahre lang Arbeit rein, deshalb wollte ich auch auf die Entfernung ihr größter Fan sein."
"Zum Finale konnte ich dann nach Frankreich reisen und sie persönlich anfeuern. Das war wirklich schön. Mein Onkologe meinte zwar, das geschehe entgegen ärztlichen Rat, aber ich meinte, ich frage gar nicht erst nach seinem Rat! (lacht) Ich bin noch in Behandlung, fühle mich aber gut."
Die Frau aus Summerside sieht anscheinend alles positiv. Sie sagt:
"Ich hatte das Glück, Spiele mit Birgit Prinz, Marta und großen US-Spielerinnen wie Alex Morgan oder Abby Wambach zu leiten. Mein erstes Jugendturnier war die FIFA U-20 Frauen-WM 2008. Ich habe das Spiel Argentinien gegen Frankreich geleitet und Eugenie Le Sommer stach als großes Talent heraus. Als Schiedsrichterin hat man den besten Platz im Stadion. In den vergangenen 15 Jahren hatte ich das Privileg, mit den Besten der Besten auf dem Platz zu stehen."
"Und 2017 als eine von sieben Frauen als Schiedsrichterin zur FIFA U-17-Weltmeisterschaft der Männer zu reisen, kam wirklich unerwartet. Es hat Spaß gemacht, [als vierte Offizielle] an dem Turnier teilzunehmen und zu erleben, wie Esther Staubli ein Spiel leitet. Ich hatte das Glück, bei diesen Weichenstellungen dabei zu sein und zu erleben, wie sich ein Sport weiterentwickelt. Und hinsichtlich der Vorbereitung hat sich zwischen meiner ersten Weltmeisterschaft 2011 und der Vorbereitung auf Frankreich [2019] sehr, sehr viel verändert. Es gibt sehr viel mehr Möglichkeiten, mehr Trainingslager, mehr Einsatz. Wir als Schiedsrichterinnen haben immer gesagt, wir wollen nicht als weibliche oder männliche Offizielle gesehen werden, nur als Offizielle. Und ich glaube, an diesen Punkt kommen wir allmählich."
Dieser Artikel ist Teil unserer neuen Serie mit dem Titel "Frauen im Fussball", in der wir einen Blick hinter die Kulissen werfen. In der kommenden Woche steht die schwedische FIFA Instruktorin Ingrid Jonsson im Blickpunkt.